Bilanz: 50 Jahre Bausoldaten in der DDR – was waren die Motivationen und wie sehen ehemalige Spatensoldaten ihre Entscheidung heute?
Nach dem Selbstverständnis der DDR-Genossen waren sie das Äußerste, was den Werktätigen der Republik »zugemutet« werden konnte: Die jungen Männer in der Uniform der Nationalen Volksarmee (NVA) mit den goldenen, später silbergrauen Spaten auf den Schulterstücken. Bausoldaten oder Spatensoldaten, kurz«Spatis«, hießen sie, die aus Gewissensgründen ihren Pflichtwehrdienst in den unbewaffneten Baueinheiten ableisteten. Erst am 7. September 1964, also vor 50 Jahren, wurde dieser Wehrersatzdienst, der freilich nie ein ziviler Ersatzdienst war, nicht zuletzt auf Drängen der Kirchen eingeführt. 15 000 bis 16 000 Menschen entschieden sich trotz Diskriminierung und Schikane im weiteren Lebensweg für die Waffenverweigerung. Die Kirchenzeitung hat einige von ihnen befragt, was ihre Motivation für die damalige Entscheidung war. Und wie sie diese im Rückblick sehen und sie unter heutigen Bedingungen treffen würden.
Was mich motivierte? Erstens, ich wuchs mit einem in Stalingrad schwer verletzten Vater auf. Zweitens Literatur: Gandhi, M. L. King und die Bergpredigt. Und drittens die Gespräche in der Jungen Gemeinde Saalfeld über Zivilcourage und Friedensethik.
Aus heutiger Sicht würde meine Entscheidung ähnlich ausfallen. Es gibt einschlägige wissenschaftliche Untersuchungen: Zivile Konfliktbearbeitung durch gewaltfreie Aktionen sind erfolgreicher als Kriege. Gewaltfreie Aktionen hatten in den letzten einhundert Jahren nur wenig Menschenleben zu beklagen und langfristige Friedensphasen zur Folge (Indien, Befreiungsbewegung in den USA, friedliche Revolution in der DDR u. a.). Konflikte werden auch heute unter anderem durch Waffenexporte in militärische Bahnen gelenkt, die dann eher zu Eskalationen führen können. Solange es eine Ideologie des Stärkeren gibt, gibt es auch Motivation zu Gewalt und Krieg. Die Selbstverpflichtung der Ökumenischen Weltversammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in Seoul 1990 halte ich für wegweisend: »Wir werden alle Möglichkeiten ausschöpfen, um Gerechtigkeit und Frieden zu schaffen und Konflikte durch aktive Gewaltfreiheit zu lösen.«
Heinz Bächer, Jahrgang 1957, Bausoldat von Herbst 1977 bis Frühjahr 1979 in Prora/Rügen, heute Klinikseelsorger am Uni-Klinikum Jena und selbstständiger Supervisor und Familientherapeut
Ich war 18 Jahre alt. Den Druck und die Unwahrhaftigkeit des DDR-Systems habe ich gespürt. Die Allmacht und Allgegenwärtigkeit des Staates auf allen Ebenen des Lebens erzeugten mal Zorn, mal Ohnmachtsgefühle. Unvorstellbar, diesem System mit der Waffe in der Hand befehlsmäßig ausgeliefert zu sein. Aber auch durch Totalverweigerung in Gefahr zu geraten, jegliche Lebensperspektive zu verlieren, war keine Option. Deshalb erklärte ich zur Einberufungsüberprüfung meine Entscheidung zum »Dienst bei den Baueinheiten der NVA«. Zwei Tage später in der Schule teilte mir der Direktor mit, dass ich aufgrund meiner Entscheidung »nicht würdig« sei, die DDR im Ausland zu repräsentieren. Der Dresdner Kreuzchor plante für September eine dreiwöchige Westreise, zu der ich kurz vorher eingeladen worden war. So reiste ich nicht in den Westen, sondern nach Prora …
Und heute? Eine einmal gewonnene Haltung, wie die, keine Waffe zu nehmen, legt man nicht ab wie ein Kleidungsstück. Sie sitzt tief und wohnt nicht nur im Verstand. Gleichwohl erkenne ich nicht, wie sich Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid an Völkern oder Volksgruppen, wie wir sie im Bosnienkonflikt erschreckend erlebt haben und wie wir sie momentan im Irak miterleben, anders eindämmen lassen als durch militärische Gewalt. Ich kann nicht sagen, wie ich heute entscheiden würde, zumal eine Antwort auf diese Frage, anders als vor 33 Jahren, sehr theoretisch bliebe.
Sebastian Kircheis, Jahrgang 1963, Bausoldat von November 1982 bis April 1984 in Prora/Rügen, heute Pfarrer an der Stadtkirche St. Peter und Paul, Weimar
Zu NVA-Zeiten Bausoldat zu sein, war in christlichen Kreisen so etwas wie eine Imagefrage. Für mich damals die Gelegenheit zu zeigen, wohin ich hingehöre, mehr noch, wohin ich nicht gehören will. Ich hatte verinnerlicht: Ein wirklicher Christ wird Bausoldat. Im Wehrkreiskommando legte ich meine schriftliche Begründung vor. Nachdem ich lange zu meiner Entscheidung befragt worden war, entließ man mich. Eingezogen wurde ich später nie. Aber den Mut zum Nein-Sagen gehabt zu haben, bewirkte in mir ein solidarisches Gefühl mit allen Andersdenkenden.
Nach der Wende fiel der Wert dieses Nein-Sagens bei mir nicht mehr ins Gewicht. Ich war als Christ auch nicht mehr Verbündeter des »Klassenfeindes«. Der Gedanke, dass ich auch mit dem Spaten in der Hand dem Sozialismus in der DDR und der Partei der Arbeiterklasse gedient hätte, hat mich nie so richtig losgelassen. Den Dienst ganz zu verweigern und dafür nach Schwedt ins Militärgefängnis zu gehen, war ich zu feige. Im Zusammenhang mit der Frage, wer den Frieden, den ich genoss, garantiert, wurde mir die Bundeswehr bewusst. Tun es Gebete, Kerzen, Diskussionen? Wie viel Gewalt ist nötig, um dem Bösen die Stirn zu bieten? War Jesus nicht auch gewalttätig? Wem aber Gewalt gegeben ist, muss ganz besonders wissen, wofür er sie einsetzt. Mich trafen die Worte von Jesus Christus: »Gehet hin in alle Welt …« (Markus 16, 15) Ich wusste, dass ich die Welt derer, die sich auf andere Art für den Frieden einsetzen als ich, nicht deswegen auslassen darf, weil ich eine christlich weiße Weste behalten will. Verantwortung zu übernehmen und zu helfen, Verantwortung zu tragen, wurde für mich zum Liebesdienste, zu dem mein Glaube an Jesus Christus mich berief und befähigte. Seelsorge muss dort sein, wo die Menschen sind, die sie brauchen.
Martin Hüfken, Jahrgang 1956, als Bausoldat gemustert aber nicht eingezogen, seit 2010 Militärpfarrer an der Unteroffiziersschule des Heeres in Delitzsch
Für den Bausoldatendienst haben mich christliche Überzeugung und politische Opposition motiviert. In meiner Erklärung für das Wehrkreiskommando bekannte ich mich 1988 zum »Weg der Gewaltlosigkeit von Jesus Christus«. Eine Pfarrhaus-Kindheit, Prägungen im Dresdner Kreuzchor, der 13. Februar 1945 im Familiengedächtnis sowie mit Kerzen vor der Frauenkirche, der Aufnäher »Schwerter zu Pflugscharen« an der grünen Kutte, Lieder von Gerhard Schöne, Udo Lindenberg und Stephan Krawczyk, der Beitritt zur Friedensgruppe »Gewaltlos leben« – das alles kann meinen Weg zu den Bausoldaten biografisch erklären. Vor der Einberufung wollte ich dann eigentlich total verweigern. Eine Entscheidung, zu der mir der Kopf von »Gewaltlos leben«, der Thüringer Pfarrer Jo Winter, »nicht mal zu- oder abraten« konnte. »Keiner geht für Dich in’ Kahn. Aber eben auch nicht zur Asche!«, schrieb er in einem Brief.
Als Bausoldat habe ich genug vom Militär. Ich wollte damals nicht zur Armee und würde heute nicht hingehen. Kasernenleben, Marschieren, Befehl- und Gehorsam – so möchte ich nicht (mehr) leben. Ich kann mir auch jetzt nicht vorstellen, auf Menschen zu schießen. Da hat sich für mich nichts geändert. Geändert hat sich aber die Lage in der Welt. In der DDR war die NVA vor allem eine Disziplinierungs- und Unterdrückungsanstalt für junge Männer: ein Gefängnis im Gefängnis. Jeglicher Gedanke an einen Krieg zwischen Ost und West erschien angesichts der nuklearen Hochrüstung als widersinnig. Dann wurden nach der friedlichen Revolution in Ruanda (1994) und in Srebrenica (1995) Tausende – ganz konventionell – ermordet. Heute toben neue Kriege. Immer noch lässt sich Frieden nicht herbeibomben. Aber extreme Gewalt ist manchmal nur mit Gewaltmitteln zu stoppen.
Sebastian Kranich, Jahrgang 1969, Bausoldat von November 1988 bis Dezember 1989 in Merseburg, Wolfen und Welzow, heute promovierter Theologe an der Universität Heidelberg
Meine Erstmusterung fand 1987 und meine Einberufungsmusterung Anfang 1989 statt. Ich stamme aus einem christlichen Elternhaus und war fest in der Jungen Gemeinde meines Heimatortes Welzow (Niederlausitz) integriert. Für mich war die lange vor der Wende getroffene Entscheidung zum Bausoldaten damals eine Art Bekenntnis zum Glauben. Ausschlaggebend war für mich der Umstand, dass mein gesellschaftliches Umfeld (insbesondere auch die Schule) mich frühzeitig spüren ließ, dass diese Gesellschaft meine Kirchenzugehörigkeit als Affront zur sozialistischen »Weltanschauung« wahrnahm. Ich wurde so gesehen regelrecht in eine Distanz zum DDR-Staat hineingedrängt. Folgerichtig war dann auch die NVA in meiner Wahrnehmung ein Ort, an dem ich – noch stärker als andernorts – den unterschwelligen ideologischen Repressalien des von mir als bedrohlich wahrgenommenen Systems ausgesetzt sein würde. Diesem wollte ich mich – so weit es ging – entziehen. Bei den Bausoldaten erhoffte ich mir genau diesen größtmöglichen Freiraum.
Rückblickend bin ich immer noch ein wenig stolz auf meine damalige Entscheidung und würde, wenn ich noch einmal in einem ähnlichen System leben müsste, erneut so entscheiden. Die Position eines von jeglichen politischen Gegebenheiten absehenden Pazifismus habe ich weder damals noch heute vertreten. Insofern sehe ich in meiner Entscheidung von damals keinen Widerspruch zu meiner heutigen Tätigkeit als Militärseelsorger in der Bundeswehr.
Matthias Spikermann, Jahrgang 1969, Bausoldat von November 1989 bis September 1990, heute Militärseelsorger in Potsdam
Ich hatte als Christ zwei Gründe (die sich beide in der Bergpredigt finden), den Dienst mit der Waffe in der NVA abzulehnen. Zum einen das Gebot Jesu nicht zu schwören. (Matthäus 5,36) Es war mir unmöglich, den Fahneneid in der damals geltenden Fassung und mit Bezug auf das Gesellschaftssystem zu leisten. Zum anderen war es Jesu Gebot der Feindesliebe (Matthäus 5, 43-45), was es mir verwehrte, mit der Waffe zu dienen.
Die Entscheidung unter heutigen Umständen? Interessante Frage, wenn auch (fast) nur theoretischer Natur. Eine wirklich freiheitlich-demokratische Grundordnung ist für mich ein so hohes Rechtsgut, das es unter Umständen verdient, auch mit militärischer Gewalt verteidigt zu werden. Fazit: Heute bin ich dankbar und sogar ein bisschen stolz darauf, zur Truppe der Bausoldaten gehört zu haben.
Wolfgang Straß, Jahrgang 1956, Bausoldat von November 1982 bis April 1984 in Brandenburg-Hohenstücken, Bad Muskau und Burg, heute Heilerziehungspfleger in den Neinstedter Anstalten in Neinstedt im Ostharz